Die Schriften Philipp Mainländers
Von Michael Gerhard (Mainz)
Im Februar 1860 kam der große, der bedeutungsvolle Tag meines Lebens. Ich trat in eine Buchhandlung und durchblätterte die frisch aus Leipzig eingetroffenen Bücher.
(In: Winfried H. Müller-Seyfarth (Hrsg.): ›Die modernen Pessimisten als decadents.‹ Von Nietzsche zu Horstmann. Texte zur Rezeptionsgeschichte von Philipp Mainländers ›Philosophie der Erlösung‹ Würzburg 1993, S. 93-113, hier: S. 98)
Da finde ich Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung.
Schopenhauer? Wer war Schopenhauer? Den Namen hatte ich noch nie gehört. Ich blätterte in dem Werk, ich lese vom Verneinen des Willens zum Leben, finde zahlreiche mir bekannte Zitate in einem Text, der mich traumbefangen macht. Ich vergesse meine Umgebung und versinke. Endlich sage ich: »Was kostet das Buch?« »6 Dukaten.« »Hier ist das Geld.« – Ich ergreife meinen Schatz und stürze wie ein Verrückter aus dem Laden nach Hause, wo ich den ersten Band in fieberhafter Hast aufschnitt und von vome zu lesen anfing. Es war heller Tag, als ich aufhörte; ich hatte die ganze Nacht in einem fort gelesen.
Diese Zeilen entstammen einer Zusammenstellung autobiographischer Textfragmente des Philosophen Philipp Mainländer (1841-1876), dessen Schriften in vier Bänden nun im Georg-Olms-Verlag zum ersten Male in dieser Form und (fast!?) vollständig vorliegen. Wer mit Leben und Werk Philipp Mainländers auch
nur in einem geringen Maße vertraut ist, kann ermessen, daß es sich bei den obigen Zeilen keineswegs um eine philosophische bzw. rein biographische Fußnote handelt, sondern um ein quasi Erweckungserlebnis eines Neunzehnjährigen. Jedoch ist Philipp Mainländer alles andere als ein reiner Epigone Schopenhauers; überfuhrt er doch dessen Denken in den »konsequentestem Pessimismus der Philosophiegeschichte. In diesem Lichte ist die Herausgeberarbeit Winfried H. Müller-Seyfahrths zu würdigen, welcher es sich zur Aufgabe gesetzt hat, in dem Dunkel des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu stöbern, den ein oder anderen Denker dem Vergessen zu entreißen, und mit dem vielbändigen Werk der Schriften Philipp Mainländers eine erste Marke auf dem steinigen Wege des wieder zu Entdeckenden setzte – ähnliches ist für Julius Bahnsen geplant. Aber auch hinsichtlich einer fast schon archäologisch zu nennenden Tätigkeit, verbergen sich doch hinter diesen Neu- und zum Teil Erstabdrucken der Schriften dieses vergessenen Denkers gerade in dem abschließenden vierten Bande schwer zugängliche Quellen, ist Winfried H. Müller-Seyfarths Leistung anzuerkennen: 1996 wurde der erste Band herausgegeben und die Ausgabe 1999 zu einem Abschluß geführt, der vierte Band mit Hilfe Joachim Hoells.
Die vorliegende Sammlung der Schriften wird ihrem Gegenstand erschöpfend gerecht: Wohl alle für das Denken Philipp Mainländers signifikanten Texte finden sich hier vereint und so angeordnet, daß das Ganze dem Leser als perspektivenreicher Gesamteindruck in Erinnerung verbleibt. Die vier in äußerst ansprechender Ausstattung herausgegebenen Bände repräsentieren zum einen chronologisch in ihrem Erscheinen die Erstausgaben der publizierten Werke Philipp Mainländers in photomechanischer Reproduktion, welche da wären Die Philosophie der Erlösung. Erster Band (1876), Die Philosophie der Erlösung. Zweiter Band (1886) und der dritte Band der Schriften: Die letzten Hohenstaufen. Ein dramatisches Gedicht in drei Teilen: Enzo – Manfred – Conradino (1876). Zum anderen liegt mit dem vierten Bande der Schriften eine Neu- und Erstedition von Texten auf der Grundlage handschriftlicher Vorlagen einerseits und von in Zeitschriften und Tageszeitungen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts erschienenen bzw. auch bis dato noch nicht publizierten Texten Philipp Mainländers andererseits vor. Der Art der Wiedergabe und vor allen Dingen der Art der Textquellen entsprechend, ist die Frakturschrift der Erstausgaben bei den ersten drei Bänden beibehalten worden, so daß nur der vierte Band durch Antiqua auffällt. Orthographie und Grammatik wurden gegenüber den Vorlagen jedoch in keinem der vier Bände den heute gültigen Regeln angepaßt, was weder einen Vor- noch einen Nachteil darstellt, da Philipp Mainländer seine Begrifllichkeit nicht ›orthographisch-interpretativ‹ verwendet. Eine Überblickschronik zum Leben Philipp Mainländers gegen Ende des letzten Bandes, Die Macht der Motive, rundet das Gesamtbild ab, welche durch Esprit im Fettdruck besticht, daß zwar »Philipp Mainländer geboren wird« – passivisch -, nicht aber ebenso stirbt, sondern »sich das Leben nimmt« – aktivisch (Schriften Bd. 4, 472f.). Ein Personenverzeichnis bzw. ein ausführliches Sachwortregister der vier Bände dieser Neuausgabe, welche mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auf Jahre hinaus die wegweisende und einzige bleiben wird, hätte nicht nur die ohnedies schon bedeutende Leistung des Herausgebers Winfried H. Müller-Seyfarths, eines Schülers Franco Volpis, welcher sich als Mainländer-Fachmann auszeichnet, noch um ein Vielfaches aufgewertet, sondern auch den wissenschaftlichen Umgang mit diesem Denker vereinfacht. Den Schlußpunkt setzt ein Werkverzeichnis, welches gerade hinsichtlich einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung um die Publikationen Winfried H. Müller-Seyfarths ›Die modernen Pessimisten als decadents.‹ Von Nietzsche zu Horstmann. Texte zur Rezeptionsgeschichte von Philipp Mainländers ›Philosophie der Erlösung‹. Würzburg 1993 und – seine Dissertation – Apologie der Selbstauslöschung. Ethik und Metaphysik in Philipp Mainländers Theorie des Zerfalls. Engelsbach/ Frankfurt/M./ St. Peter Port 1996, durch Angaben von Sekundärliteratur zu erweitern gewesen wäre, beinhaltet doch gerade die erstere einerseits noch schwer zugängliche Texte und Fragmente von und zu Philipp Mainländer (so auch das Eingangszitat) und gibt andererseits, dem Stand ihres Erscheinens Rechnung tragend, einen sehr guten Überblick zur bibliographischen Gesamtsituation, so daß sie es verdient hätte, in einem solchen Werkverzeichnis und nicht nur in den Fußnoten der Vor- und Nachworte Erwähnung zu finden. Andererseits setzt der Herausgeber Winfried H. Müller-Seyfarth den ersten drei Bänden jeweils ein instruktives und als gelungene Einführung in das Denken Philipp Mainländers zu lesendes Vorwort voran, respektive dem vierten Band ein Nachwort zur Editionsgeschichte hinten an.
Das Augenmerk des editionsgeschichtlich interessierten Schopenhauer-Lesers ist bei dem letztgenannten Nachwort auf zwei Punkte zu lenken. Zum einen, daß sich auch der Vater Arthur Hübschers, Georg Hübscher, als Verleger der dritten Auflage des ersten und der zweiten Auflage des zweiten Bandes der Philosophie der Erlösung 1894 annahm. Zum anderen, daß es einige wenige kleine editionsgeschichtliche Korrekturen anzuzeigen gilt: So ist z.B. eine separate zweite Auflage im Jahre 1886 des ersten Bandes (Schriften Bd. 4, 474) nicht verifizierbar. Dagegen ist eine hier nicht ausgewiesene zweite Auflage dieses Bandes schon 1879 feststellbar – und dies von gleich zwei Verlegern. Diese zweite Auflage des ersten Bandes von 1879 und die ersten, schon 1882/83 herausgegebenen, Lesungen zum zweiten Band wurden der Abschlußlesung dieses zweiten Bandes 1886 (s.a. Schriften Bd. 2, V) beigegeben, bevor Koenitzer diesen – wiederum 1886 – in seiner endgültigen Form edierte (s.u.) – zugestandenermaßen sind die Umstände der damaligen Herausgabe, wie sie noch recht wohlwollend von Otto Hörth (Otto Hörth: La famille Mainländer In: ARCHIVIO DI PSICHIATRIA, SCIENZE PENALI ED ANTROPOLOGIA. Vol. 12 (Turin 1891), S. 484-494) geschildert werden und eng mit der Person der Schwester Minna Batz verknüpft sind, mehr als abenteuerlich. Auch
kann der interessierte Leser sich recht schnell darüber in Kenntnis setzen (GESAMTVERZEICHNIS DES DEUTSCHSPRACHIGEN SCHRIFTTUMS: 1700-1910, Bd. 92, S. 174), daß Die Letzten Hohenstaufen in den Jahren 1876 und 1878 in erster und zweiter Auflage verlegt wurden.
Für das Vorwort des vierten Bandes, Die Macht der Motive, konnte Winfried H. Müller-Seyfarth den Gießener Anglisten, Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und ›Denker des Anthropofugalen‹ Ulrich Horstmann, bzw. für das Nachwort den Berliner Thomas-Bemhard-Forscher Joachim Hoell, welcher wie erwähnt auch als Mitherausgeber dieses vierten Bandes zeichnet, gewinnen. Vor- und Nachwort des Bandes bilden die Klammer um eine Sammlung von literarischen Texten, welche die Gattung des Dramas ebenso wie jene des Gedichtes, der Novelle und der Autobiographie umschließt. Stellt Ulrich Horstmann noch sehr schön die gegenseitige Durchdringung von Philosophie und Literatur unter dem Primat der ersteren im Denken Philipp Mainländers heraus, so unternimmt Joachim Hoell allerdings den wenig einsichtigen Versuch, diesen vorrangig als »Dichter« etablieren zu wollen (Schriften Bd. 4, 461), habe er sich doch schon 1857/58 als sechzehnjähriger Dramenautor hervorgetan. Auch führen Interpretationen Joachim Hoells wie z.B. »Das Paradoxon seiner [Mainländers] verkehrten Erziehung besteht darin, die Menschen so schnell wie möglich aufzuklären, damit sie ihr eigenes Elend erkennen und die geistige Freiheit besitzen, sich selbst zu erlösen.« {Schriften Bd. 4, 462; Sperrdruck M.G.) eher in die Irre und sind wenig dienlich. Denn es sind nicht zuletzt gerade solche Ansätze Philipp Mainländers, welche seine in der abendländischen Philosophiegeschichte einzigartige Buddhismusadaption anzeigen. Sachdienlicher wäre an dieser Stelle, wenn die »germanistische Auseinandersetzung« (Schriften Bd. 4, 461) zum Abschluß dieser vierbändigen Schriftenreihe in einem größeren Entwurf nicht nur Die letzten Hohenstaufen (Schriften Bd. 3) sondern auch die ›philosophische Komik‹: Eine naturwissenschaftliche Satire (Schriften Bd. 2, 512ff.) mit ihrer Verankerung in der Tradition des 19. Jahrhunderts mehr in den
Blick rücken würde.
Was die Gestaltung und Anordnung der einzelnen Abschnitte betrifft, so habendie Herausgeber sich für eine Vierteilung in die oben genannten Literaturgattungeneinschließlich der Dramenfragmente entschieden und der Chronologie des Schaffens Philipp Mainländefs, welche interessanterweise so auch gattungsübergreifendbeibehalten werden kann, Rechnung getragen. Diese Anordnung ist gewiß schon durch die klar unterschiedenen Textgatlungen legitimiert, doch stellt sich beim Lesen dieser Texte eine Erfahrung ein, welche den Entschluß der Herausgeber zusätzlich unterstreicht: Man wird Zeuge des offenen, intensiven und alle Spannungen austragenden Selbstgespräches eines Denkers – in Aus meinem Leben – und zugleich der inneren Entwicklung eines Menschen und seines Denkens von einem umeine humanistische >Aufklärung< ringenden Tarik hin zu einem Buddha, welcher einer >Aufklärung< den Pessimismus als Instrument zur eigenen Umsetzung reicht und spricht: »Durch meine Seele geht ein mächtiges Gefühl/ Euch alle, alle, zu mir herzuzieh’n,/ Doch so kann es nicht sein/ So biet ich meine Worte euch/ Und meine Taten. Folgt mir nach.« (Schriften Bd. 4, 459) Als wirklich verdrießlich ist aus wissenschaftlicher Perspektive abschließend nur der Widerspruch zwischen der Aussage Ulrich Horstmanns, daß es sich mit den Schriften um »die vollständig edierten Schriften« (Schriften Bd. 4, VII) handele, und jener Winfried H. Müller-Seyfarths, »eine Auswahl [der GedichteJ wird im vierten Band der Schriften Philipp Mailänders […] erscheinen« (Schriften Bd. 3, V), anzusehen, welche nirgends eine Korrektur erfährt. So drängen sich die Fragen auf: Welche Editionskriterien liegen der (etwaigen!?) Auswahl der Gedichte und des erwähnten Konvolutes von »Konzepten und Exzerpten« (Schriften Bd.4, 468) zugrunde? Aber wozu eine solche, alles in allem wirklich gelungene Neu- und Erstauflage eines fast vergessenen Denkers? Soll dem Spezialisten nur die Mühe erspart wer den, sich die Werke und sonstigen zugegebenermaßen schwer zugänglichen und verstreuten Texte des fast Vergessenen selbst zusammenzusuchen und chronolo gisch ordnen zu müssen? Aber die Frage ist – wie so oft schon – auch hier wieder falsch gestellt, denn wer entscheidet, ob die Verschollenen und Vergessenen unter den Denkern auch die zu Unrecht Verkannten sind? Was gehört in die Historie der Philosophie? Was hat den Wellen des Zeitgschmackes standgehalten? Je gründlicher man sich auf die in dieser Edition versammelten Texte einläßt, desto klarer tritt hervor, daß das philosophische und literarische Denken Philipp Mailänders als – unaufgebbarer – Bestandteil, ja als das >momentum< einer Moderne verstanden werden muß, ohne das sie keinen Bestand hätte. In all seinen Befangenheiten, Ressentiments und programmatisch überhöhten Ansichten ist Philipp Mainländer zwar eine Gestalt der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, jedoch äußert sich in der Perspektive seines Denkens eine sich selbst emanzipierende Moderne. Will man verstehen» was die Moderne ist, so gilt es, sich ihren Kulminationspunkten zuzuwenden: Die Schriften Philipp Mainländers sind ganz gewiß ein solcher.
Es gilt, einen außergewöhnlichen Denker neu zu entdecken, oder wie Nietzsche am 6. Dezember 1876 an Overbeck schreibt: »Wir haben viel Voltaire gelesen: jetzt ist Mainländer an der Reihe.«
Philipp Mainländer, Schriften:
Band 1 Die Philosophie der Erlösung. Erster Band.
Band 2 Zweiter Band. Zwölf philosophische Essays.
(Die Philosophie der Erlösung. Zweiter Band. Zwölf philosophische Essays. 1.-4. Lsg. (S. 1-528). Koenitzer, Frankfurt/M. 1882/83; Die Philosophie der Erlösung. Zweiter Band. Zwölf philosophische Essays. 5. Schluß-Lsg. Koenitzer, Frankfurt/M. 1886; Die Philosophie der Erlösung. Zweiter Band. Zwölf philosophische Essays. Koenitzer, Frankfurt/M. und Hübscher & Teufel, Köln 21894)
Band 3 Die letzten Hohenstaufen. Ein dramatisches Gedicht in drei Teilen
Band 4 Die Macht der Motive. Literarischer Nachlaß von 1857 bis 1875.
(Rupertine del Fino. Ist: Rupertine. Novelle von Philipp Mainländer. Erei nach dem Original Eritz Sommeriad. In: ALLGEMEINE ZEITUNG, MÜNCHEN, 102. Jahrg, Nr. 101, 103, 105, 108, 110, 112, 115, 117, 118 u. 122 vom 12.4.1899 bis 3.5.1899; Aus meinem Leben. Ist: Meine Soldatengeschichte. Hrsg. u. eingl. v. Walter Rauschenberger. In: SCHRIFTENREIHE DER ›PREUßISCHEN JAHRBÜCHER‹ 18 (Berlin 1925); Buddha. Ein dramatisches Eragment von Philipp Mamländer. Hrsg, von Hans Ludwig Held. In: DIE RELIGIÖSE KULTUR. EIN VOLKSTÜMLICHES ARCHIV FÜR RELIGIONSKUNDE. 2. Jahrg. (München/ Leipzig 1913-1917), Sp. 480ff; Tarik, Die Macht der Motive, Aus dem Tagebuch eines Dichters u. Tiberius. Erstabdruck)
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