Über die Sexual- und Ehefrage | Lenin zur sexuellen Frage
aus Clara Zetkins Erinnerungen an Lenin, Berlin 1975.
[Lenin] … Mir wurde erzählt, dass eine begabte Kommunistin in Hamburg eine Zeitung für die Prostituierten herausgibt und diese für den revolutionären Kampf organisieren will. … Gibt es in Deutschland wirklich keine Industriearbeiterinnen mehr, die zu organisieren sind, für die es ein Blatt geben sollte, die zu euren Kämpfen herangezogen werden müssten? Hier handelt es sich um einen krankhaften Auswuchs. … Zurückführung der Prostituierten zur produktiven Arbeit, Eingliederung in die soziale Wirtschaft. Darauf kommt es an. … Da haben Sie ein Stück Frauenfrage, das sich nach der Eroberung der Staatsmacht durch das Proletariat breit vor uns hinstellt und praktische Lösung fordert. … Doch zurück zu eurem besonderen Fall in Deutschland. Die Partei darf keinesfalls solchem Unfug ihrer Mitglieder ruhig zusehen. Das stiftet Verwirrung und zersplittert Kräfte. (…)
… Können Sie mir ernsthaft versichern, dass in den Lese- und Diskussionsabenden die Sexual- und Ehefrage vom Standpunkt des reifen, lebendigen, historischen Materialismus aus behandelt wird? Das hat ein vielseitiges, tiefes Wissen zur Voraussetzung, klarste marxistische Bewältigung eines ungeheuren Materials. Wo habt ihr jetzt die Kräfte dafür? Wären sie vorhanden, so würde es nicht vorkommen, dass Broschüren wie die erwähnte bei den Lese- und Diskussionsabenden als Unterrichtsmaterial benutzt werden. Man empfiehlt und verbreitet sie, statt dass man sie kritisiert. Worauf denn läuft die unzulängliche, unmarxistische Behandlung der Frage hinaus? Dass die Sexual- und Ehefrage nicht als Teil der großen sozialen Frage erfasst wird. Umgekehrt, dass die große soziale Frage als eine Teil, als ein Anhängsel der Sexualprobleme erscheint. Die Hauptsache tritt als Nebensache zurück. Das schadet nicht bloß der Klarheit in dieser einen Frage, das trübt das Denken, das Klassenbewusstsein der Proletarierinnen überhaupt.
Außerdem und nicht zuletzt! Schon der weise Salomo sagte, dass alles seine Zeit hat. Ich bitte Sie, ist jetzt die Zeit, monatelang die Proletarierinnen damit zu unterhalten, wie man liebt und sich lieben lässt, wie man freit und sich freien lässt? Natürlich in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, bei verschiedenen Völkern. Was man dann stolz historischen Materialismus nennt. Jetzt müssen alle Gedanken der Genossinnen, der Frauen des arbeitenden Volkes auf die proletarische Revolution gerichtet sein. Sie schafft auch für eine wirkliche Erneuerung der Ehe- und Sexualverhältnisse die Grundlage. Jetzt treten doch wahrhaftig andere Probleme in den Vordergrund als die Eheformen der Aborigines und die Geschwisterehe in alter Zeit. Die Rätefrage steht für die deutschen Proletarier noch immer auf der Tagesordnung. Der Versailler Vertrag und seine Auswirkungen im Leben der Frauenmassen. Arbeitslosigkeit, sinkende Löhne, Steuern und vieles andere. Kurz, ich bleibe dabei, dass diese Art politischer, sozialer Bildung der Proletarierinnen falsch ist, ganz und gar falsch. (…)
Lenin zur sexuellen Frage
Die veränderte Einstellung der Jugend zu den Fragen des sexuellen Lebens ist natürlich „grundsätzlich“ und beruft sich auf eine Theorie. Manche nennen ihrer Einstellung „revolutionär“ und „kommunistisch“. … Obgleich ich nichts weniger als finsterer Asket bin, erscheint mir das sogenannte „neue sexuelle Leben“ der Jugend – manchmal auch des Alters – oft genug als rein bürgerlich, als einen Erweiterung des gut bürgerlichen Bordells. Das alles hat mit der Freiheit der Liebe gar nichts gemein, wie wir Kommunisten sie verstehen. (…)
Übrigens ist diese Befreiung der Liebe weder neu, noch kommunistisch. Sie werden sich erinnern, dass sie zumal gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts als die „Emanzipation des Herzens“ in der schönen Literatur gepredigt wurde. In der Praxis der Bourgeoisie entpuppte sie sich als die Emanzipation des Fleisches. … Nicht etwa, als ob ich mit meiner Kritik die Askese predigen möchte. Fällt mir nicht ein. Der Kommunismus kann nicht Askese bringen, sondern Lebensfreude, Lebenskraft auch durch erfülltes Liebesleben. Jedoch meiner Ansicht nach gibt die jetzt häufig beobachtete Hypertrophie das Sexuellen nicht Lebensfreude und Lebenskraft, sie nimmt nur davon. (…)
Zumal die Jugend braucht Lebensfreude und Lebenskraft. Ein gesunder Sport, Turnen, Schwimmen, Wandern, Leibesübungen jeder Art, Vielseitigkeit der geistigen Interessen. Lernen, Studieren, Untersuchen, soviel als möglich gemeinsam! Das alles wird der Jugend mehr geben als die ewigen Vorträge und Diskussionen über sexuelle Probleme und das sogenannte Ausleben. Gesunder Körper, gesunder Geist! (…)
– Die Revolution fordert Konzentration, Steigerung der Kräfte. Von den Massen, von den einzelnen. … Die Zügellosigkeit des sexuellen Lebens ist bürgerlich, ist Verfallserscheinung. Das Proletariat ist eine aufsteigende Klasse. Es braucht nicht den Rausch zur Betäubung oder als Stimulus. So wenig den Rausch sexueller Übersteigerung als den Rausch durch Alkohol. Es darf und will sich nicht vergessen, nicht vergessen die Abscheulichkeit, den Schmutz, die Barbarei des Kapitalismus. Es empfängt die stärksten Antriebe zum Kampf aus seiner Klassenlage, aus dem kommunistischen Ideal. Es braucht Klarheit, Klarheit und nochmals Klarheit. Deshalb, ich wiederhole es, keine Schwächung, Vergeudung, Verwüstung von Kräften. Selbstbeherrschung, Selbstdisziplin ist nicht Sklaverei, auch nicht in der Liebe. (…)
Die Zukunft unserer Jugend liegt mir sehr am Herzen. Es ist ein Stück Revolution. Und wenn sich schädliche Erscheinungen zeigen, die aus der bürgerlichen Gesellschaft in die Welt der Revolution hinüberkriechen – wie die Wurzeln mancher Wucherpflanzen sich weit verbreiten – so ist es besser, frühzeitig dagegen aufzutreten. (…)
[Clara Zetkin] Lenin hatte mit großer Lebhaftigkeit und Eindringlichkeit gesprochen. Ich fühlte an jedem Wort, dass es ihm aus der Seele kam, der Ausdruck seiner Züge bekräftigte es. Manchmal unterstrich eine energische Handbewegung einen Gedanken. Ich bewunderte, dass Lenin neben überragenden großen politischen Fragen auch Einzelerscheinungen soviel Aufmerksamkeit zuwandte und sich mit ihnen auseinandersetzte. Und das nicht bloß in Sowjetrussland, sondern auch in den noch kapitalistischen Staaten. Als der vorzügliche Marxist, der er war, erfasste er das einzelne, wo und in welcher Gestalt es sich zeigte, in seinem Zusammenhang mit dem Großen, dem Ganzen und in seiner Bedeutung dafür. Sein Lebenswille, sein Lebensziel war einheitlich, unerschütterlich wie eine unwiderstehliche Naturgewalt auf das Eine gerichtet: auf die Beschleunigung der Revolution als Massenwerk. So wertete er alles in seiner Auswirkung auf die bewussten Triebkräfte der Revolution. National, wie international, denn vor seinen Augen stand stets bei voller Würdigung des historische gegebenen Besonderen in den einzelnen Ländern und der verschiedenen Entwicklungsetappen die eine, unteilbare proletarische Weltrevolution.
– Wie bedauere ich, dass nicht Hunderte, nicht Tausende Ihre Worte gehört haben, Genosse Lenin, rief ich aus. Sie wissen ja, mich brauchen Sie nicht zu bekehren. Aber wie wichtig wäre es, dass Freund und Feind Ihre Meinung hörte. –
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