Philipp Mainländer als Sozialist | Philosophie, Pessimismus, Politik
Von Susanna Rubinstein (München)
Man kennt Mainländer fast nur als begeisterten Jünger Schopenhauers und als Fortbildner seiner Willensmetaphysik, weit weniger oder vielleicht gar nicht bekannt ist es, daß er ein Problem mit tiefer Innigkeit erfasst, welches sein Meister geringschätzig ignoriert, nämlich das Problem der historischen Entwicklung, näher der Sozialpolitik.
Schon in seinem philosophischen Hauptwerk, dem ersten Band der „Philosophie der Erlösung“ legt er in der Idee des „idealen Staats“ ( Kap. Politik ) seine sozialistischen Sympathien und Ansichten dar. Der „ideale Staat“ ist hier aber überhaupt nur die Hülse für die Einpuppung eines höheren Zwecks, er ist nur die flüchtig aufgerichtete Vorstufe im Dienst eines höheren Endziels, dem der spekulativen Erlösung.
In den zwölf Essays, die seine Schwester nach seinem frühen Tod als zweiten Band der „Philosophie der Erlösung“ herausgab, ist die soziale Frage, in den drei ihr gewidmeten Abhandlungen vom realen Standpunkt als vorläufiger Selbstzweck behandelt, doch über denselben erschließt sich perspektivisch, in oypressenumhangener Nebelferne, die spekulativ verheißene Friedensstätte, die city of peace, das nihil negativum, zu dem man nach der historischen Entwicklungsperiode des Sozialismus übersetzen soll. Im ersten Band erörtert er das soziale Problem in der Weise, wie ein Student seine Studien nur so weit, als sie Erfordernis für einen künftigen Beruf, und nur mit Rücksicht auf denselben betreibt. In den Essays geht er auf dasselbe mit einer gewichtigeren Betonung der gegebenen Zustände als solcher ein, etwa wie ein bedachter Student seiner aktuellen Aufgabe gerecht zu werden strebt, ohne aber dabei ihren beruflichen Endzweck aus dem Auge zu verlieren.
Auf sozialpolitischem Gebiet ist Lassalle Mainländers Vorbild, wie es auf philosophischem Schopenhauer ist. Sein Charakterbild Lassalles ist ein Meisterwerk psychischer Porträtierungskunst. Mainländer besitzt einen wunderbar feinen und tiefen Sondierungsblick, um aus Wort und Lehre die Individualität des Autors bis in ihre zartesten Eigenzüge erstehen zu lassen. Das Wort scheint vor seinem geistigen Blick die Leuchtkraft zu haben, ihm die Tiefen, aus denen es sich emporringt, in ihrer verborgensten Gestaltung zu erhellen. (Diese Eigenschaft zeigt sich auch mit zauberischem Schmelz in den Charakterbildern von Buddha und Christus). Er hält Lassalle nicht wie Schopenhauer für ein absolutes und originelles Genie, aber für den strebsamsten und fleißigsten Geist.
„Mit faustischem Trieb“ habe sich Lassalle dem Studium hingegeben, und er kann „in voller Kenntnis jeder Zeile, welche er geschrieben hat, ihm das Zeugnis ausstellen, daß es keinem Talent je besser gelungen ist und je besser gelingen wird, als ihm, sich die ganze Bildung des Jahrhunderts zu assimilieren. Er studierte, studierte mit dem brennenden Wissensdurst eines Juden. – Mehr brauche ich nicht zu sagen“. Um Lassalles Geist richtig zu erfassen, müsse man – meint Mainländer – seinen Herakleitos gründlich gelesen haben.
„Welche erstaunliche Kombinationskraft, welcher brilliante Scharfsinn, welche concise Knappheit, welche Virtuosität, aus Millionen Hüllen einen Kern herausschälen“. Dabei betont er, daß Lassalle ein eminent praktischer Mann war, und daß er der erste in Deutschland gewesen, der einen wirklich praktischen Vorschlag machte. Unter diesen meinte er wohl das allgemeine und direkte Wahlrecht, das auch bald bewilligt wurde. Unbeschadet der großen Verehrung für Lassalle stimmt Mainländer nicht mit allen seinen reformatorischen Doktrinen überein, vor Allem nicht mit der vom Staatskredit.
Im Ganzen ist der Ausgangspunkt von Mainländers reformatorischen Gedankengang der, daß die soziale Frage eine Bildungsfrage sei; und insbesondere ist sie dies für ihn mit Rücksicht auf die in blauer verlorener Ferne ruhende city of peace, auf die generelle und absolute Erlösung, zu welcher die Menschheit nur auf ihrer Höhe gelangen kann.
„Die soziale Frage ist nichts Anderes als eine Bildungsfrage, wenn sie sich auch auf der Oberfläche ein ganz eigenartiges Ansehen hat; denn in ihr handelt es sich lediglich darum, alle Menschen auf diejenige Erkenntnisstufe zu bringen, auf welcher allein das Leben richtig beurteilt werden kann“, d.h. auf der erkannt wird, daß es unter allen Verhältnissen wesentlich leidvoll und glücklos ist. Die Vorbedingungen für die Bildung sind: 1. Versöhnung der Arbeit mit dem Kapital, damit der Arbeiter Zeit gewinne, sich wissenschaftliche Kenntnisse anzueignen, und 2. die freie Schule. Die Versöhnung der Arbeit mit dem Kapital wird sich am leichtesten durch Aktiengesellschaften, die sich auf alle volkswirtschaftlichen Gebiete erstrecken sollen, und bei denen der Arbeiter Teil am Gewinn hat (wie dies schon sporadisch besteht), durchführen lassen. Lassalles Axiom vom Staatskredit stimmt er deshalb nicht bei, weil eine solche freie Konkurrenz der Arbeit mit dem Kapital nichts Anderes hieße, als Brachlegung des Kapitals. „Woher sollten denn die Fabrikanten ihre Arbeiter nehmen können, wenn der Staat die Arbeiter durch Gewährung von Staatskredit befähigte, sich selbstständig zu assoziieren?“ Wie er annimmt, liegt virtualiter „in dieser Versöhnung des Kapitals mit der Arbeit der reine Kommunismus“. Unter „reinem“ Kommunismus versteht Mainländer diejenige Form desselben; bei der das Mein und Dein gewahrt wird; es soll der Staat das Vermögen Aller verwalten, und jeder Einzelne soll Rentner nach dem Maßstab seines Depots sein; dadurch bliebe der Unterschied im Umfang der Bedürfnisse noch immer ermöglicht. Mit dem Institut des Kommunismus scheint die freie Liebe organisch zusammenzuhängen[*]; selbst von einer weiblichen Feder wurde an dieser Stelle dieser Zusammenhang unbedenklich als Zukunftsideal proklamiert. Mainländer findet für die freie Liebe sogar cihische Motive, allerdings musste er bei der Eigenart seines Charakters auf solche geraten, um für sie einzutreten. So, meint er, gehört es zu ihr, daß die durch Zerwürfnisse der Eheleute erweckten Untugenden, wie Lüge und Verleumdung, „die trotzig ihr Haupt aus dem Schlamm der Leidenschaften erheben“, durch sie abgewendet werden. Die Realisierung der freien Liebe schließt für ihn in sich als notwendige Bedingung die Übergabe der Kinder an den Staat. Zu den vielfachen Vorteilen, die Mainländer in dieser Einrichtung sieht: wie Entlastung von Pflichten und Sorgen – kommt noch das extra Gute hinzu, daß sie die verderbliche Affenliebe, die so viel Unkraut in der Seele des Kindes großzieht, aus der Welt schaffen wird.
Allein, wie der Kommunismus überhaupt, sind mithin auch seine Accessoiren: die freie Liebe und die Kindesabtretung, nur Mittelzwecke, nur Vorbereitungsstadien für ein in überweltlicher Ferne sich erschließendes Endziel, sie sind nur Stationen auf der Wanderschaft zum wehmütigen Friedenshafen.
„Meine Philosophie blickt über den idealen Staat hinaus, blickt über Kommunismus und freie Liebe hinaus, und lehrt nach einer freien, leidfreien Menschheit den Tod der Menschheit. Im idealen Staat, d.h. in der Form des Kommunismus und der freien Liebe, wird die Menschheit das »hyppokratische Gesicht« zeigen: sie ist dem Untergang geweiht, und nicht nur sie, sondern auch das ganze Weltall“.
—[¹]
Nach Mainländers Überzeugung vollzieht sich die historische Bewegung der Menschheit vom Sein zum Nichtsein, und zwar aufgrund des Gesetzes, daß die Zivilisation tötet, indem sie die Kraft schwächt und das Leid vermehrt. Jedes Volk, das in die Zivilisation eintritt und dadurch in eine schnellere Bewegung gerät, versinkt im Absterbungsprozess.
Das generelle Untergehen nach dem historischen Stadium des allgemeinen Kommunismus soll sich jedoch nicht durch das allmähliche Wirken objektiv mechanischer Gesetze vollziehen, sondern die Menschheit wird sich auf diesem durchgreifenden Höhepunkt der Kultur selbst der Erlösung, als ultima ratio, weihen. Um dahin zu kommen, muss die Masse erst satt werden;
„ … sie [die Masse] muss Alles, was die Erde an Genüssen bieten kann, gekostet haben, um sich vom Leben an sich abwenden zu können.“
—[¹]
Das bedingt selbstverständlich, daß sie die Einsicht gewonnen haben muss: daß das Leben auch in der relativ besten Form nur das täglich erneuerte Wälzen des Steins ist, und daß eine Fülle von Leiden von demselben durchaus untrennbar ist.
Über die Art, wie die absolute Erlösung der Menschheit erfolgen soll, wie „das große Opfer“ – nach dem Ausdruck der Inder – gebracht werden soll, stellt Mainländer verschiedene Eventualitäten auf. Ist das Menschengeschlecht einmal auf diese Höhe gebracht, so werde es sich auch über das Mittel einigen.
„Die Menschheit tritt durch den idealen Staat hindurch (Mainländer ist theoretischer Sozialist) mit Hilfe der Virginität in das Nichtsein. Mainländer verwandelt also den mystisch-transzendenten Akt der Schopenhauerschen Willensverneinung in einen innerweltlichen Prozeß.“
—[²]
Die tiefe Nacht von Mainländers Pessimismus einerseits dem welchen, nagenden Erbarmen für die von unablässigen Martern durch die Tage ihres Daseins gehetzte Menschheit; andererseits war sie auch durch sein ästhetisch zartes und vornehmes Gefühl genährt, welches das Herabgezerrtwerden durch die Ketten der Naturnotwendigkeit nicht vertrug. Das Wort Plotins: daß er sich seines Leibdaseins schäme, kann vollauf auch von Mainländer gelten. Ein weiterer Zusatz zu seiner pessimistischen Grundstimmung war dieser: daß er neben seinem innigen Mitgefühl für zweck- und aussichtslos ringende Menschengeschlecht auch von tiefster Missachtung für dasselbe durchdrungen war.
Es war die letzte erschütternde Konsequenz seiner strengen und redlichen Übereinstimmung zwischen Leben und Lehre, daß er diese in seinem 35. Lebensjahre – am 31. März 1876 – durch einen freiwilligen Tod besiegelte; nachdem er schon lange zuvor in erhabener Selbstentäußerung von sich sagte: „Ich bin losgelöst von Person und Sache“.
Quellennachweise:
¹ Susanna Rubinstein: Philipp Mainländer als Sozialist. In: Sozialistische Monatshefte, 2 = 4(1898), H. 2, S. 72-75
² siehe ¹
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